Hallo alle zusammen auf der anderen Seite des Internets.
Erst einmal möchten wir uns bedanken für all eure lieben Nachrichten, Emails und Anrufe, die uns in den den letzten Tagen erreicht haben, und die uns viel Trost und Kraft gegeben haben. Viel kann man in solchen Situationen ja nicht machen, auch hier vor Ort nicht. Doch gegenseitige Unterstützung und nachsichtige Fürsorge helfen uns und allen anderen hier wirklich wahnsinnig dabei, durch den Tag zu kommen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie eng eine Gemeinschaft in solchen Zeiten zusammenstehen kann. Selbst die sonst grummeligen Kassierer vom Kiosk gehen fast zärtlich mit uns um, als ob sich alle auf einmal wieder der Nichtigkeit der kleinen ob der großen Probleme bewusst geworden sind. Unsere Kollegen erkundigen sich täglich per Whatsapp nach unserem Befinden, wie die Nacht war, ob es uns gut geht, ob wir in Sicherheit sind, wenn es heikel wird, informieren uns über angekündigte Aktionen, bieten uns an, die Nächte mit ihnen zu verbringen, stellen sicher, dass wir uns richtig verhalten… Auf Arbeit wird gerade viel einfach nur geredet, man nimmt sich die Zeit, im Flur inne zu halten und zu fragen, wie der Kollege aus dem Nachbarlabor die Nacht überstanden hat. Es hilft zu reden, um zu verarbeiten. Daher noch einmal: danke für eure vielen Nachrichten!
Ein Rückblick
Die letzte Woche hat kein Zeitgefühl mehr.
Der Anfang der Woche, genauer Sonntag und Montag, war thematisch davon bestimmt, dass Prof. Dan Tawfik aus unserem Department bei einem Kletterausflug ums Leben kam. Martin hatte erst vor Kurzem angefangen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war ein sehr offener, verbindender, großzügiger Charakter, und so war die Trauerstunde am Sonntag vor unserem Gebäude erfüllt mit äußerst warmen Worten. Außerdem war mein Kollege Guy am Sonntag nach Jena geflogen, und so war ich viel damit beschäftig, ihm aus der Ferne beim Ankommen behilflich zu sein.
Und dann kam der Dienstag. Einige aufmerksame Nachrichtenleser hatten mich zu diesem Zeitpunkt bereits kontaktiert, aber in der Tat war der Dienstag für mich ein stinknormaler Arbeitstag, und die Raketen im Süden habe ich als „wie gewöhnlich“ wahrgenommen. Martin hatte noch ein Skype-Date, und so bin ich alleine nach Hause gelaufen. Da ich mit dem Essen auf ihn warten wollte, hatte ich mir eine Yoga-Routine aus dem Internet angemacht, und war gerade im Hund oder so, als es über mir laut rumste und gleichzeitig der Raketenalarm in Rehovot losheulte. Ich muss zugeben, dass ich wie ein aufgeschrecktes Eichhörnchen durch die Wohnung geflitzt bin, auf der Suche nach dem besten Ort. Unsere Wohnung und unser Haus hat keinen Schutzraum oder Keller, und der Hausflur hat eine Außenwand mit Fenstern, und so landete ich in unserem Eingangsflur, da dieser keine Außenwand und keine Fenster hat. Draußen heulte und rumste es, die Fensterscheiben klirrten, und ich schrieb Martin nur ein knappes „Hallo?“ beantwortet von einem „Conny?“. Nach ein paar Minuten hörte es auf, und die Nachbarn waren draußen im Treppenhaus zu hören auf dem Weg in die Wohnung unter uns. Martin war zur selben Zeit auf der Hauptstraße von Rehovot in einem Hausflur von irgend jemandem untergekommen, gemeinsam mit anderen Passanten und einer Ladung Leute aus einem Linienbus. Viele weinten und waren auch sichtlich geschockt. Dann kam eine zweite Welle, wieder Explosionen und die Sirenen. Nur wenige Minuten später schon sah Martin, wie Leute an ihre Tische im Restaurant zurückkamen und weiteraßen. Ich habe stattdessen den restlichen Abend gebraucht, um wieder einigermaßen klar zu kommen, und meine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Uns erreichte eine Flut an Nachrichten von den Kollegen und denen von euch, die in der Tagesschau den Alarm in Tel Aviv life gesehen hatten. Guy hatte mir geschrieben, ich solle essen und trinken, und so versuchten wir es mit einem Abendbrot, auch wenn ich keinen Appetit hatte. Da es schon spät war, bauten wir schon bald unsere Wohnung um (Rolladen runter gegen die Druckwellen, alle Türen zu, die Matratze in den Flur, und die Gästematratze vor die Wohnzimmertür mit der eingesetzten Glasscheibe), und schnell war ich eingeschlafen… ich war hundemüde. Gegen 3 Uhr nachts wurden wir von einem weiteren Krachen über uns munter, dann heulte die Sirene los, die Frau über uns rannte die Treppen runter zur Nachbarin unter uns, wir zogen die Decke bis ans Kinn, dann kamen die Explosionen. Angeblich kann man akustisch unterscheiden, ob es das Geräusch ist, was entsteht, wenn die paaweise eingesetzten Luftabwehrraketen (der „Iron Dome“) eine Rakete treffen und in der Luft zerstören, oder ob es ein Einschlag ist (z.B. werden Raketen, die auf unbewohntem Gelände wie Feldern landen, nicht abgefangen). Als es endlich vorbei war, schliefen wir mit etwas Verzögerung wieder ein. Gegen 5 Uhr nachts wiederholte sich das ganze noch einmal, da war ich aber so müde, dass ich kaum noch aufgeregt war.
Viele schliefen in den nächsten Tag hinein, da die Nacht kurz gewesen war und alle übermüdet waren. Die meisten meiner Kollegen haben keinen Schutzraum oder Keller, und haben sich jedes Mal mit Kind und Kegel ins Treppenhaus geflüchtet. Viele ziehen sich gleich so an, dass sie mitten in der Nacht aus dem Bett ins Treppenhaus zu den Nachbarn stolpern können, und haben vielleicht noch einen Beutel mit Wasser und Snacks parat, den sie an der Tür schnell mitnehmen können. Wir beschlossen, auf Arbeit zu gehen, da es dort definitiv sicherer ist. Auf dem Weg dorthin merkte ich mir alle möglichen Hauseingänge, in die man sich spontan flüchten könnte. Wir inspizierten die Schutzbunker auf dem Campus, an denen wir vorbei liefen (solide Dinger, mit Toiletten und einer Treppe nach unten zu einem großen Raum). Es waren wenige auf Arbeit, die Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, wer in Tel Aviv wohnt, ersparte sich den weiten Weg. Und Martins Kollege Or wurde als Reservist eingezogen. So trafen wir vorrangig die Kollegen ohne Kinder, die in Rehovot wohnen. Martin verbrachte seinen Tag mit diversen Nachrichtenkanälen und auf Twitter während ich mich an der Laborbank mit schönen, einfachen Pipettierarbeiten beschäftigte. Für 18 Uhr war ein weiterer Angriff angekündigt worden, und so fanden wir uns kurz vor 18 Uhr mit Emanuel, Roee und Yuval (alle aus verschiedenen Laboren) auf dem Balkon wieder (dort hört man den Alarm besser), ausgestattet mit Snacks und Bier im warmen Licht der Abendsonne, und redeten über Gott und die Welt und vor allem übers Wandern. Auf dem Hausdach gegenüber baute jemand seine Kamera für schöne Raketenbilder auf. Unter uns direkt vor dem Schutzbunker wartete ein älteres Ehepaar auf Klappstühlen darauf, in den Bunker umzuziehen. Nach einer Stunde verabschiedeten sich die anderen, da sie davon ausgingen, dass da nichts mehr kommen würde. Und wir gingen unsere Sachen zusammenräumen. Wenige Minuten später kam dann doch der Alarm, welchen wir jeder in seinem Flur im Schutzraum verbrachten, Martin allein, ich mit meinem Kollegen Eliran. Das sind solide Räume mit Luftfilter und Treppen, die über alle Etagen miteinander verbunden sind. Wir warteten noch 15 Minuten (in denen die Reste von den abgefangenen Raketen runterfallen), dann gingen wir nach Hause. Nachts wurden wir noch einmal gegen 1 Uhr von einem Alarm aus dem Schlaf gerissen.
Der Donnerstag begann ruhig. Morgens hatte ich ein Gespräch mit meinem Chef. Etwas Laborarbeit, dann stand unser Gruppenseminar an. Doch gegen 15 Uhr heulten wieder die Sirenen. Martin skypte gerade mit seiner Chefin, und ich saß mit der Hälfte unserer Arbeitsgruppe im Gruppenseminar, die andere Hälfte war per Zoom zugeschaltet, inklusive Guy in Jena, so dass dieser auf einmal vor einer leeren Bildfläche saß, da wir uns alle irgendwo hingeflüchtet hatten. Alles sehr skurril.
Gestern, am Freitag, sind wir zum Frühstücken ins Cafe Alma, Normalität spüren. Das Cafe war voll! Hingegen waren die Restaurants am Abend vorher eher leer gewesen. Abends trauen sich weniger, da knallt es öfters, und jeder der Familie im Norden hat, war in den letzten Tagen dorthin geflüchtet. Schizophrenerweise gibt es im Norden zwar seltener Raketenalarm und man schläft besser, aber dafür gibt es mehr Städte mit gemischter arabischer und israelischer Bevölkerung. Rehovot hat übrigens auch eine gemischte Bevölkerung, aber eine russische Mischung. Unruhen gibt es dafür gleich im Nachbarort Ramle – eine beliebte Humus-Quelle – sowie in Lod – der Zug nach Tel Aviv fährt dort durch, bzw. fuhr, momentan ist die Strecke aufgrund der Unruhen gesperrt.
Und heute ist Shabbat. Gegen 3 Uhr bin ich vom Alarm auf Gedera oder Yavne munter geworden. Später, nach dem Frühstück, bin ich bei schönster Sommersonne auf Arbeit gelaufen, um ein Experiment zu beproben. Zweimal wurde ich beim Filtrieren von einem weiteren schweren und langen Raketenangriff unterbrochen, lies alles stehen und liegen, zog für 10 min in den Schutzraum um, und telefonierte dort mit Martin, bis es vorbei war. Dann sammelte Yuval erst mich und dann Martin ein, und wir fuhren zu ihm raus an den Stadtrand zum Grillen. Herrlich! Kebab, Würste, Senf, Sonne, ein Hund zum Kraulen, ein Kardamon-Kaffe, eine Hängematte und ein langer Spaziergang über die Felder bei Sonnenuntergang… alles ohne Alarm. 🙂 Und gleich werde ich noch ein Foto an das Weizmann schicken, welches eine Solidaritätsbekundung vorbereitet, gegen Hass und Gewalt und für mehr Zusammenhalt.
Eigentlich wollte ich in drei Tagen zum Flughafen fahren, um einen PCR Test zu machen, den ich einen Tag später bei meinem Flug nach Berlin vorgezeigt hätte. Haste gedacht. Die meisten internationalen Fluglinien streichen gerade ihre Flüge. Ich hatte gehofft, dass Easyjet noch zwei, drei Tage mit seiner Entscheidung warten würde, aber nein, das wäre auch zu schön geworden. Den Koffer habe ich aber noch nicht wieder weggeräumt!
Ein paar Informationen zum Festhalten
Es bringt zwar effektiv nichts, hilft uns aber trotzdem allen, der Sache irgendwie Herr zu werden: Zahlen, Fakten, Informationen, Sondersendungen, Reportagen, und und und. Hier ein kleiner interner Blickwinkel.
- Die Homepage „National Emergency Portal“ (wie ich mittlerweile erfahren habe, funktioniert der Link wohl nur intern) ist auf Englisch und versorgt uns mit Hinweisen und Leitfäden und ist in der Tat sehr hilfreich, wenn man als Ausländer auf einmal mit dem Alltag von Krisengebieten konfrontiert wird. Wer lernt schon in Europa normalerweise, ob die Überlebenschance höher ist, wenn man man im oder neben dem Auto den Raketenalarm verbringt?
- Unter anderem gibt es dort eine digitale Raketenalarmfunktion (auch als App), sowie Übersichten, um nachzusehen, wo und wann gerade die Sirenen heulen. Hier seht ihr die Übersicht für Rehovot:
- Wie einige schon festgestellt haben, ist das alles hier so nah beieinander. Gleichzeitig macht jeder Kilometer auch einen enormen Unterschied. Sowohl für die Unruhen in gemischten Städten, als auch für die Menge und Häufigkeit an Raketen. Hier seht ihr eine Karte mit verschiedenen Zonen. Wenig überraschend sind die Wohnungspreise in Ashkelon sehr günstig, gefolgt von Ashdod. Wir in Rehovot, aber auch die Menschen in Tel Aviv, sind seltener betroffen, nördlich von Tel Aviv ist die Wahrscheinlichkeit dann immer geringer, dafür nimmt wohl die Häufigkeit von Raketen aus dem Libanon zu.
- An Morgen nach dem großen Raketenhagel machte die Zahl von 1000 Raketen in den Medien die Runde. Zur Beruhigung (?) landeten allerdings zwei Drittel davon, also ca. 600 bereits in Gaza, von den restlichen ca. 300 wurden ca. 90% vom Iron Dome abgefangen, einige gingen auf Feldern runter, und ab und zu schaffte es dann aber doch eine Rakete durch. Was ich damit sagen möchte ist, dass wir im Prinzip ziemlich gut durch den Iron Dome geschützt sind. Und mit diesem Gedanken erwarte ich nach den Sirenen die Raketen, stressig ist es trotzdem.
- Medienkonsum ja, aber gut dosiert. Das ist zumindest meine Devise, um hier mit heilen Nerven durch den Tag zu kommen. Die israelischen Nachrichten sind voll von Bildern und Videos, ebenso die sozialen Netzwerke, in denen es voller Raketenabfangvideos wimmelt. Hilfreich sind da eher schon die Emails des Internationalen Offices und des Weizmann-Institutes, die uns z.B. über Angebote zur Stressbewältigung informieren.
Ein letzter Gedanke
Ich habe mir in den letzten Tagen oft diese andere Conny vorgestellt, eine Conny, die zeitgleich irgendwo in Gaza wohnt, nicht an einem coolen Wissenschaftsinstitut arbeitet, auch keinen Schutzraum hat und zwischen Treppenhaus und dem Zimmer mit den wenigsten Fenstern wählen muss, aber dann bei jedem Raketenalarm mit 100% Sicherheit von einer Detonation ausgehen muss, da es keinen Iron Dome gibt, der über ihr in der Luft irgendetwas davon abfängt was da kommt und sie versucht zu beschützen…
Hinterlasse einen Kommentar